Geistlicher Impuls zur Passionszeit
Geistlicher Impuls zur Passionszeit.
In Vézelay, einem Ort in Burgund (Frankreich), der zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt, findet sich in der dortigen Kathedrale aus dem 12. Jahrhundertein einzigartiges Säulenkapitell. Es besteht aus zwei Szenen. Auf der einen Seite entdeckt man Judas mit aufgerissenen Augen und weit heraushängender Zunge, hilf- und wehrlos, am Strick an einem Baum hängen. Auf der anderen Seite des Kapitells sieht man, wie jemand den toten Judas von seinen Verstrickungen löst und befreit, vom Baum genommen und auf seine Schultern gelegt hat. Nun trägt er ihn und bringt ihn nach Hause, wie ein guter und treuer Hirt das verletzte oder verlorene Schaf. Kein Zweifel, dieser Hirte ist der auferstandene Christus.
Wie der unbekannten Steinmetz in großer künstlerischer und gläubiger Freiheit die tragische Judasgeschichte (Johannes 13,21-30) weiter erzählt?! Eindrucksvoller lässt sich die grenzenlose, unermessliche Barmherzigkeit Gottes nicht darstellen. Christus gibt Judas nicht auf, lässt ihn nicht hängen. Judas ist kein hoffnungsloser Fall, kein Leben endgültig verpfuscht. Niemand ist rettungslos verirrt und hoffnungslos verloren. Jesus verurteilt nicht, sondern richtet auf und rettet. Er schließt nicht aus, sondern nimmt an. Jesus legt sich Judas selber auf und trägt ihn. Was für eine Liebe! Welch großes Erbarmen! In Jesus nimmt Gott die Schuld der Welt auf sich. „Für euch und für alle gegeben“, hören wir im Abendmahl. Und beim letzten Abendmahl war auch Judas dabei!
Durch sein Sterben teilt Jesus nicht nur das Schicksal des Judas, sondern all derer, die zweifeln und verzweifeln, verärgert und enttäuscht sind. Indem Jesus stirbt, vollzieht der Sohn Gottes stellvertretend für uns an seinem eigenen Leib und Leben das Gericht, ergeht Gnade vor Recht. Aus Liebe geht der Unschuldige die tiefsten Wege mit uns. Jesus trägt die Last der Menschen, denen es schwerfällt, ihren Idealen treu zu bleiben, die mit einer Schuld nicht fertigwerden, die voller Schmerzen ihr Leid tragen, die Gott einfach nicht verstehen und sich von ihm abgewandt haben, die einsam und verlassen sind, die mit Fragen sterben oder mit Sorgen leben.
Auf dass unser Herz ruhig werde und das Vertrauen in uns zu wachsen beginnt, dass wir in allem, was wir zu tragen haben, selbst getragen, getröstet und bei Gott geborgen sind.
Herzliche Grüße
Michael Brück